Wir
sind allein im Zimmer, deine Mutter ist in Obergeschoss des
Hauses.
Ich mag dich, habe dich von Anfang an sehr gern gehabt. Ich
nehme es dir nicht übel, dass du oft grob zu mir bist,
du bist ja noch klein.
Plötzlich findest du diesen Bürotacker, beginnst damit
zu spielen. Du bist ja noch so klein, so neugierig, willst alles
ausprobieren. Du tackerst Papier zusammen, jauchzt vor Freude.
Ganz selten beschäftigt sich jemand mit dir, du armes Kind,
das musst du meist selbst machen.
Sie wollen nur ihre Ruhe haben ...
Dann kommst du auf mich zu, mit dem Tacker
in der Hand. Deine kleine Kinderhand greift nach meinem Schlappohr,
und ... AU! - das hat weh getan! Ich jaule auf, doch du verstehst
es nicht. Bist ja noch so klein, für dich ist es nur
ein Spiel. Du greifst wieder nach meinem Ohr, ich will fliehen,
doch wir sind in dem kleinen Zimmer eingesperrt. Du tust es
wieder, wieder jaule ich unter dem Schmerz laut auf. Du verstehst
es nicht, denkst es wäre ein Spaß, ein lustiges
Spiel. Ich bin dir nicht böse, du bist ja noch so klein.
Du tust es wieder und wieder und wieder, ich kann dir nicht
entkommen.
Mein lautes Jaulen schallt durchs ganze
Haus, doch niemand kümmert sich darum. Wo ist deine Mutter?
Warum läßt sie uns wieder so lange allein?
Warum hört sie mein Jaulen, meine verzweifelten Hilfeschreie
nicht? Du rennst hinter mir her, drängst mich in die
Ecke, tust es wieder. Wieder jaule ich gequält auf, dieses
Mal noch lauter als zuvor. "Halt endlich die Schnauze
du Scheißköter!", hallt die Stimme deiner
Mutter durchs Treppenhaus. Sie nennt mich immer so, sie mag
mich nicht besonders.
Eigentlich hat sie mich nur gekauft, damit du etwas zum Spielen
hast und sie in Ruhe lässt. Sie will immer nur ihre Ruhe
haben. Sie mag sich nicht um dich kümmern, und sie mag
sich erst recht nicht um mich kümmern.
Mein Ohr schmerzt, doch du lässt nicht
von mir ab. Was soll ich nur tun?
Ich will dir nicht weh tun, weiß du meinst es micht
böse. Du verstehst es nicht, weil dir niemand beigebracht
hat, dass man Tiere nicht zum Spaß quälen darf.
Niemand hat dir je beigebracht, dass auch ich Schmerzen empfinde.
Sie wollen nur ihre Ruhe haben ... Wieder spüre ich diesen
stechenden Schmerz, er macht mich rasend. Wieder versuche
ich zu entkommen, doch es glingt mir nicht. Der Raum ist zu
klein. Ich will dir nicht weh tun, ich liebe dich doch!
Du tust es wieder und immer wieder, der
Schmerz wird unerträglich. Doch du hörst nicht auf,
jagst mit eine Klammer nach der Anderen ins Ohr. Du kannst
nichts dafür, du weißt nicht was du tust. Du bist
ja noch so klein, verstehst es nicht. Schließlich kann
ich nicht mehr, halte die Schmerzen nicht länger aus.
Ich schnappe nach dir, mein Fangzahn streift dich an der Wange.
Wir halten beide erschrocken inne, sehen uns einen Moment
in die Augen. Ich wollte dich nicht verletzen, wollte nur
dass es aufhört ...
Du greifst dir mit deiner kleinen Hand an
die Wange, und als du das Blut an ihr siehst, beginnst du
zu schreien. Plötzlich geht alles ganz schnell. Deine
Mutter kommt, reißt dich an sich. Dein Vater kommt,
tritt brutal auf mich ein und schleift mich ins Auto. Er bringt
mich zum Tierarzt. "Sofort einschläfern, das Drecksvieh
hat mein Kind gebissen!", brüllt er aufgebracht.
Der Tierarzt kennt mich. Er wundert sich, kann kaum glauben,
dass ich das wirklich getan haben soll. Tränen schiessen
ihm in die Augen, als er die 98 Heftlammern in meinem Ohr
sieht. Er streichelt mir sanft über den Kopf, dann greift
er zur Spritze. Er muss es tun, ist dazu verpflichtet ...
Morgen werde ich die Sonne nicht mehr aufgehen
sehen. Aber ich werde berühmt sein. Auf den Titelblättern
aller großen Zeitungen wird mein Foto stehen. Darüber
wird in großen Buchstaben geschrieben sein: "HUND
ZERFLEISCHT KIND!" In den Artikeln wird es heißen:
"Schon wieder fiel ein vermeintlich braver Familienhund
grundlos ein Kind an und verletzte es schwer im Gesicht..."
Vielleicht wird die Geschichte sogar im Fernsehen diskutiert.
Viele Menschen werden dann entsetzt aufschreien, hitzig diskutieren.
Einige werden fordern, dass alle Hunde für immer eingesperrt
werden sollten.
Niemand wird erzählen oder schreiben
was genau geschah, denn das interessiert nur ganz wenige Menschen.
Deine Eltern haben es den Medien so erzählt, und die
waren sehr froh darüber. Die Menschen lieben Geschichten
über wilde Bestien, das bringt gute Auflagen und gute
Einschaltquoten. Gute Auflagen & Einschaltquoten bringen
viel Geld, und das lieben die Menschen noch viel mehr. Ich
habe die Menschen geliebt.
Ich habe dich geliebt ...
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